T. Fischer u.a. (Hrsg.): Als Geschäftsmann in Kolumbien (1911-1929)

Cover
Titel
Als Geschäftsmann in Kolumbien (1911–1929). Autobiographische Aufzeichnungen von Hans Sitarz


Herausgeber
Fischer, Thomas; Anneliese Sitarz
Reihe
Lateinamerika-Studien 46
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Vervuert/Iberoamericana
Anzahl Seiten
313 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stephan Scheuzger, Institut für Geschichte, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich

Das Themengebiet der Migration nimmt einen prominenten Platz ein im Aufmerksamkeitshorizont einer Geschichtsschreibung, die sich um eine transnationale Weitung der disziplinären Perspektiven bemüht. Die historische Migrationsforschung hat dabei von den Ansätzen, die die Wanderungen als transnationale Phänomene betrachten, zweifellos neue Impulse erhalten1. Gleichzeitig vermag der Innovationsanspruch der rasch wachsenden geschichtswissenschaftlichen Strömung, die sich der Ablösung des Nationalstaatsparadigmas durch eine Historiographie der über nationale Grenzen hinweg und unter Beteiligung nichtstaatlicher Akteure stattfindenden Interaktionen verschrieben hat, die Tradition des Forschungsbereiches in keiner Weise zu überschatten. Das gilt auch für das Studium der überseeischen Wanderungen von Europa auf den amerikanischen Doppelkontinent. Unter den Menschen, die den Atlantik überquerten, stellten die Kaufleute mindestens bis zu Beginn des letzten Jahrhunderts insofern eine besondere Gruppe dar, als sie sich weder in eindeutiger Weise den Migrierenden noch den Reisenden zuordnen liessen. Die Ankunft an der Destination stellte ihnen oftmals nur einen zeitlich befristeten Aufenthalt in Aussicht. Sesshafter als Reisende, unterschieden sie sich von einem Grossteil der Migrierenden durch ihre meist ausgeprägte Disposition zum Ortswechsel im Dienst des wirtschaftlichen Erfolges und des persönlichen sozialen Fortkommens, insbesondere aber auch zur Rückkehr in ihr Herkunftsland. Aufgrund ihrer Tätigkeit sowie ihrer finanziellen Situation verfügten sie nicht selten über mehr Möglichkeiten als die meisten Emigranten, die Gebiete im Umkreis ihrer neuen Arbeits- und Wohnorte zu bereisen. Aufzeichnungen von europäischen Kaufleuten in Amerika lassen sich daher von Fall zu Fall als Auswanderer- oder als Reiseliteratur lesen und unterlaufen vielfach die Genregrenzen überhaupt. Die hier zu besprechenden Aufzeichnungen des deutschen Kaufmanns und Bankiers Hans Sitarz über seine Jahre in Kolumbien stammen aus einer Zeit, in der die Mobilität gerade auch in Südamerika rasant zunahm, wodurch das Wesen der Migration und des Reisens nachhaltig verändert wurde. Bewegte sich Sitarz in der ersten Hälfte der 1910er Jahre in seinem Gastland noch auf sehr beschwerlichen, nicht selten mehrtägigen Reisen entlang von schiffbaren Flussläufen und auf Pferde- und Maultierrücken in benachbarte Städte, so benutzte er in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre für seine Reisen im Landesinneren immer häufiger Automobile und Flugzeuge.

Hans Sitarz (1889–1958), in Wien geboren und in Stettin zur Schule gegangen, stand in seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr, als er 1911 als Angestellter einer Hamburger Import- und Exportfirma nach Bogotá reiste. Er sollte achtzehn Jahre in Kolumbien bleiben und danach nicht wieder in Deutschland ansässig werden; nachdem ihm in der ersten Hälfte der dreissiger Jahre die Aufsicht und Verwaltung der Staatsbank von Nicaragua übertragen worden war, liess er sich schliesslich in den Vereinigten Staaten nieder. Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Sitarz trat seine erste Stelle im fernen Südamerika in der Überzeugung an, dort für sich die besseren beruflichen Aussichten vorzufinden als zu Hause im Deutschen Reich. Tatsächlich stieg er in Kolumbien vom unterbezahlten Handelsangestellten zum Direktor der Deutschen Antioquia Bank auf. Im Mittelpunkt der autobiographischen Erzählung steht dieser Werdegang vom Buchhalter und Verkäufer bei der Firma «Ernst Pehlke» in der kolumbianischen Hauptstadt, zum Buchhalter bei der Deutschen Antioquia Bank in Medellín, zum Filialleiter des gleichen Finanzinstituts in Baranquilla und endlich zum Bankdirektor wieder in Medellín. Als der Bremer Aufsichtsrat des Bankhauses seine Pläne zur Verlegung des Hauptsitzes von Deutschland in die USA – ein Schritt, den er als Direktor zur Wahrung der Interessen der prosperierenden Bank im expandierenden Finanzsektor und angesichts einer von ihm als überhitzt eingeschätzten Wirtschaftskonjunktur als unumgänglich betrachtete – überraschend desavouierte, trat Sitarz 1929 von seinem Posten zurück und verliess das Land. Die vom in Nürnberg lehrenden Schweizer Historiker und Kolumbien-Experten Thomas Fischer zusammen mit der Tochter von Hans Sitarz editierten Erinnerungen decken den Lebensabschnitt des ausgewanderten Kaufmanns in Kolumbien ab. Zusätzlich haben die Herausgeber auch noch die beiden kürzeren Berichte über zwei Reisen in den Band integriert, die Sitarz in der ersten Hälfte der vierziger Jahre für je einige Wochen zurück in das südamerikanische Land unternahm. Die Aufzeichnungen wurden von Sitarz in den fünfziger Jahren auf der Grundlage eines nicht mehr vorhandenen Tagebuches und eines offenbar ausgezeichneten Gedächtnisses in der Absicht niedergeschrieben, sie zu veröffentlichen. Sitarz starb vor der ursprünglich geplanten Drucklegung des Textes. Dass es sich bei den Aufzeichnungen um Erinnerungen aus erheblicher zeitlicher Distanz und von einem vollkommen veränderten biographischen Standpunkt aus handelt – mit den entsprechenden Folgen für die Selektion und die Interpretation der Ereignisse sowie für die sprachliche Gestaltung der Darstellung –, fällt für unterschiedliche Erkenntnisinteressen unterschiedlich ins Gewicht. Eine eher wirtschafts- oder im engeren Sinn sozialgeschichtlich ausgerichtete Lektüre der Autobiographie wird ihren Nutzen dadurch erheblich weniger eingeschränkt sehen als eine stärker von den Fragestellungen einer kulturhistorisch erweiterten Migrationsgeschichte angeleitete. Rückschlüsse auf die Sicht, die der europäische Auswanderer auf die ihm ausserhalb des Kontors anfänglich völlig fremde und exotische Umgebung hatte, auf die Entwicklung seiner Wahrnehmung, seiner Deutungsmuster und seiner Werte können durch die Brechung des Geschilderten am Gedächtnis nur noch sehr bedingt gezogen werden. So kann beispielsweise kaum vorausgeschickt werden, dass die Beschreibungen der lokalen Bevölkerung im Text, insbesondere dort, wo pauschale Aussagen über indios oder Schwarze gemacht werden, die Wahrnehmungen und Einstellungen des jungen, vorher nicht gereisten Deutschen in den 1910er Jahren getreu wiedergeben.

Allerdings nimmt die gerade in Reiseberichten häufig zentrale Darstellung der ansässigen, der «eingeborenen» Bevölkerung in den Aufzeichnungen von Sitarz auffallend wenig Raum ein. Ausführlicher äussert er sich individuell über Menschen mit denen er im Zusammenhang seiner beruflichen Tätigkeiten in Kontakt kam, also auch viele deutsche Landsleute und andere Ausländer, – wobei seine Urteile immer durchaus eindeutig ausfallen. Die Neugierde, die Hans Sitarz nichtsdestoweniger charakterisierte, galt nicht so sehr den Menschen wie der Natur. Der Deutsche entdeckte in Kolumbien bald seine Leidenschaft für Pferde und erkundete die Umgebung seiner wechselnden Arbeitsorte auf ausgedehnten Ritten, aber auch auf längeren Fussmärschen. Die Berichte über seine privaten Ausflüge und seine geschäftlichen Exkursionen vermögen, bei aller Nüchternheit des Stils, in dem sie gehalten sind, etwas von der Faszination zu vermitteln, die gerade das Naturerlebnis in Kolumbien auf den Städter Sitarz ausübte, der, an sich keineswegs menschenscheu, gesellschaftliche Anlässe eher mied.

Sitarz schrieb seine persönlichen Erinnerungen zwar in einer gut lesbaren Sprache nieder, durch deren Lakonie auch immer wieder ein Sinn für Humor hindurchschimmert. Einen literarischen Wert kann sein Lebensabschnittsbericht dennoch nicht für sich in Anspruch nehmen. Worin liegt der wissenschaftliche Nutzen des Textes? Der Herausgeber unterstreicht in seiner nützlichen Einleitung, von der man sich angesichts der ausgewiesenen Kenntnisse Fischers über die Geschichte des Landes zusätzlich zur inhaltlichen Synthese gleichwohl noch etwas mehr historische Kontextualisierung und Analyse hätte wünschen können, neben dem mehr vorausgesetzten als explizierten sozialgeschichtlichen Quellenwert namentlich die Bedeutung der Aufzeichnungen für die Unternehmensgeschichte. Der Text erweitert zweifellos die Informationsbasis über die Deutsche Antioquia Bank, Mitte der zwanziger Jahre eines der führenden Bankhäuser in Kolumbien. Er ergänzt eine Festschrift der Bank2 und eine ältere historische Darstellung aus lokaler Perspektive3 vor allem um eine Innensicht auf die Unternehmenskultur und die Kundenbeziehungen der Bank. Hier bedient das Buch allerdings sehr spezifische historiographische Interessen. Unter einem breiteren Blickwinkel ist einmal festzuhalten, dass Sitarz in seinem Text als weitgehend apolitischer Mensch erscheint, auch wenn verschiedene seiner Aussagen und beschriebenen Haltungen politisch interpretierbar sind – über den politischen Kontext, in dem sich die Expansion des deutsch-kolumbianischen Finanzinstitutes und damit auch die persönliche Karriere von Sitarz vollzogen, gibt es deutlich weniger zu lesen als über die Qualität der Unterbringung und des Essens auf seinen Reisen. Des Weiteren erfahren gesellschaftliche Themen vor allem eine anekdotische Behandlung, was mit in der Natur der Schrift begründet liegt und dennoch Einblicke in das Leben von Teilen der kolumbianischen Elite, namentlich der hacendados im Departamento Antioquia, und in ihre Beziehungen zu ausländischen Geschäftsleuten erlaubt. Ein «ethnologisches» Interesse war bei Sitarz ebenfalls nicht vorhanden, und über seine Erfahrung fremder Kultur ist nur noch in der Nacherzählung Aufschluss zu erhalten. Gleichwohl ist das Ego-Dokument von unbestreitbarer Bedeutung für die Geschichte der transatlantischen Migration, und zwar in erster Linie, weil es Einsicht gibt in die Arbeitswelt und das gesellschaftliche Leben europäischer Handelsleute in Südamerika im frühen 20. Jahrhundert. Es vermag exemplarisch zu veranschaulichen, wie sich im Milieu dieser Gruppe temporärer oder permanenter Wanderer sozialer Aufstieg vollziehen konnte. Die Aufzeichnungen von Hans Sitarz führen dem Leser auch, wenngleich nicht in zeitgenössischer Unmittelbarkeit, einen individuellen Prozess der Anverwandlung von Fremdem in Eigenes vor, der mit dem erfolgreichen Werdegang des Migranten verbunden war. So wie sich Sitarz in der Rekonstruktion seines Kolumbien-Aufenthaltes nie wirklich von Zweifeln an der Richtigkeit seines Weges angefochten zeigt, so bleibt ihm in dem südamerikanischen Land letztlich kaum etwas geheimnisvoll oder auch nur zu komplex, um ihm unverständlich zu erscheinen.

Zur ordnenden Aneignung des Fremden gehörte auch die photographische Dokumentierung Sitarz’ Zeit in Kolumbien. Allerdings sind die zahlreichen in den Text eingefügten Bilder mit ganz wenigen Ausnahmen nicht datiert, und Angaben darüber, wer die einzelnen Photographien gemacht hat, gibt es keine. Ob der Nachlass von Sitarz, aus dem die Bilder stammen, diese Nachweise nicht zuliess oder ob diese Kennzeichnung bei der Aufbereitung des Materials unterblieben ist, bleibt dem Leser unklar. Angesichts der zahlreichen Schilderungen von Reisen im Landesinneren wäre zudem eine detailliertere Karte Kolumbiens wünschenswert gewesen. Die autobiographischen Aufzeichnungen des deutschen Geschäftsmanns Hans Sitarz in Kolumbien sind an der transatlantischen Migrationsgeschichte Interessierten sicher zur Lektüre zu empfehlen. Insbesondere aus schweizerischer Warte drängt sich dabei auch der Vergleich auf mit dem Bericht des Aargauer Kaufmanns Hermann Kummler, der vor wenigen Jahren editiert worden ist4. Auch wenn der Commis Kummler über zwei Jahrzehnte früher und für ungleich kürzere Zeit im brasilianischen Pernambuco weilte, sind neben den Unterschieden aussagekräftige Ähnlichkeiten zwischen den beiden Darstellungen nicht zu übersehen.

1 Grundlegend geworden ist unter anderem Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Blanc Szanton (Hg.): Nations unbound: transnational projects, postcolonial predicaments, and deterritorialized nation-states. Langhorne 1994.

2 Banco Alemán Antioqueño, Medellín – Deutsche Antioquia Bank, Bremen. Bremen 1937.

3 Enrique Echavarría: Crónicas e Historia Bancaria de Antioquia. Medellín 1943.

4 Béatrice Ziegler, Beat Kleiner (Hg.): Als Kaufmann in Pernambuco 1888–1891. Ein Reisebericht mit Bildern aus Brasilien von Hermann Kummler. Zürich 2001.

Zitierweise:
Stephan Scheuzger: Rezension zu: Thomas Fischer, Anneliese Sitarz (Hg.): Als Geschäftsmann in Kolumbien (1911–1929). Autobiographische Aufzeichnungen von Hans Sitarz. Frankfurt a. M., Vervuert, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 236-239.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 236-239.

Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit